Das Narrativ – Häh? Was?

In einer Zeit, als Corona noch nicht flächendeckend in Europa ausgebrochen war (also Mitte Februar), las mein Vater im Magazin Wirtschaftswoche ein Interview mit dem US-amerikanischen Nobelpreisträger Robert Shiller. Das Interview drehte sich um die Vernachlässigung des Narrativen in der Volkswirtschaft. Mein Vater, der sich zwar sehr für Wirtschaft interessiert, aber im Gegensatz zu mir keinen Lateinunterricht genossen hat (so wie die Mehrheit der deutschen Bevölkerung), fragte mich also folgerichtig: „Was ist denn ein Narrativ?“ Ich kramte in meinen Sprachkenntnissen und versuchte mich mit der Antwort: „Tja, also ähm, was Erzählendes?“ In dieser Situation wurden mir zwei Dinge deutlich:

1. Narrative sind Erzählungen. Sie interpretieren Ereignisse und geben ihnen so eine Bedeutung. Im Grunde meint Professor Shiller, dass Ökonomen zumeist in Modellen denken, nur mit quantifizierbaren Daten arbeiten und alles Zwischenmenschliche, vor allem alle Begebenheiten, die nicht rational oder messbar sind, ausblenden. Shiller bezeichnet nun das Zwischenmenschliche mit dem Wort Narrativ. Er gibt als Beispiel an, dass alleine US-Präsident Trumps Slogan „Make America great again!“ im letzten Wahlkampf die Finanzmärkte durch die daraus entstehende Hoffnung auf eine prosperierende Wirtschaft beflügelt hätte. Dem muss man wohl glauben, denn ein sinnvoller Wirtschaftsplan, der eine dauerhaft dynamisch wachsende Volkswirtschaft glaubhaft erklärt hätte, war in Trumps Programm weit und breit nicht zu finden. Wenn Shiller also sagt, dass erzählende Elemente wichtig für die Wirtschaft sind, dann gebe ich ihm da völlig recht.

2. ABER: Ich finde es erstaunlich, dass Professor Shiller empfiehlt, dass Ökonomen nicht nur in Zahlen und Modellen denken, sondern stattdessen über den Tellerrand schauen sollen, dabei aber vernachlässigt, wer seine Ansprechpartner sind. Wenn Shiller sich hier ausschließlich an Volkswirte wendet, dann nehme ich das noch in Kauf. Wenn aber jemand wie mein Vater – also ohne VWL-Studium – die Wirtschaftswoche lesen will, dann sollte man vielleicht ein anderes Wort als das hochtrabende „Narrativ“ verwenden. Shiller versteckt sich in diesem Fall also nicht hinter Modellen und Zahlen, sondern hinter Fremdwörtern, die 95 % aller Wirtschaftsteilnehmer gar nicht verstehen können. Ein Volkswirt ist für mich immer auch ein Übersetzer der Wirtschaft für die Allgemeinheit. Und das bedeutet, eine einfache und verständliche Sprache zu sprechen. In diesem Sinne wäre nicht die Art von Volkswirt zu bewundern, die mit tollen Modellen um sich wirft, sondern diejenigen, die es gleichzeitig schaffen, das Ganze auch so zu erklären, dass jeder diese Modelle, Annahmen oder Prognosen versteht.

VWL ist keine Raketenwissenschaft, wie manch einer den Menschen weis zu machen versucht. Jeder kann die Grundlagen verstehen. Es liegt an den Volkswirten, die Inhalte gut zu erklären bzw. – um bei Shiller zu bleiben – „zu erzählen“.

 

Autor

Christiane von Berg

Regional Economist

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