Es ist wieder die Zeit des Jahres. Nein, ich meine nicht die Fußball-WM, ich meine die Zeit des Prognostizierens. Parallelen gibt es allerdings einige. Bei der WM oder jeder anderen großen Veranstaltung der DFB-Elf werden auf wundersamer Weise auf einmal 83 Millionen Deutsche zu Bundestrainern. Da wird gefachsimpelt, wie die Startaufstellung eigentlich hätte aussehen müssen und grundsätzlich hätte dieser Spieler NIEMALS eingewechselt werden sollen. Dass Jogi Löw etwas von seinem Job versteht, geht aus diesen Diskussionen jedenfalls selten hervor, man weiß es schließlich besser.
Einem Volkswirt, insbesondere wenn er jünger aussieht, geht es ähnlich. Kaum sind die Q2-Daten des Bruttoinlandproduktes veröffentlicht, meist in Kombination mit einer weitläufigen Benchmark-Revision[1], geht das neue Prognostizieren für das aktuelle Jahr und die künftigen Jahre los. Ist dann eine neue Prognose erstellt, trudeln umgehend auch schon die Kommentare aller Zeitungsleser aus dem Umfeld ein. Kollegen, Freunde, mein Vater, entfernte Freunde von Onkeln sehen dann ihre Zeit gekommen, ihre volkswirtschaftlichen Kenntnisse (aus der FAZ oder einem Semester BWL) einzusetzen, die Prognosen komplett in Frage zu stellen und zu kritisieren. Hinterfragen ist gut und gerechtfertigt, vor allem von Kollegen, die später mit meinen Prognosen arbeiten müssen. Allerdings sollten die richtigen Worte gewählt werden, sonst sind wir schnell beim WM-Phänomen und ich frage mich ernsthaft, warum ich diesen Job mache, wenn auch jeder Zeitungsleser das mit Links erledigen könnte.
Vor allem wie wir Volkswirte auf die Jahreswachstumsprognose bei gegebenen Quartalswachstumsraten kommen, ist für mein Umfeld oft unverständlich. Daher hier eine kurze Einführung in das Phänomen des statistischen Über-/Unterhangs: Die Jahreswachstumsrate des Bruttoinlandproduktes ist nicht der Durchschnitt der Quartalswachstumsraten. Es ist der Durchschnitt des BIP-Niveaus in einem Jahr im Verhältnis zum durchschnittlichen BIP-Niveau des Vorjahres. Hierfür ist die Wachstumsdynamik der zweiten Jahreshälfte des Vorjahres maßgeblich, denn sie bestimmt, von welchem Niveau aus die Wirtschaft in ein Jahr startet.
Klingt kompliziert? Hier eine grafische Veranschaulichung: Nehmen wir an, im vierten Quartal von Jahr 1 liegt das BIP bei 100. Im Jahr 2 steigt das BIP pro Quartal um 0,5% an, im Jahr 3 stagniert es und im Jahr 4 sinkt es um 0,5% pro Quartal. Obwohl wir im Jahr 3 eine Wachstumsrate von 0% pro Quartal haben, liegt die Jahresrate dennoch bei 0,8%, da wir einen Anschub aus dem Vorjahr bekommen haben. Das ist der „statistische Überhang“. Sollte am Ende eines Jahres die Wachstumsrate negativ sein, dann muss die Wachstumsrate im kommenden Jahr umso stärker sein, um aus diesem Anfangsloch herauszukommen, der „statistische Unterhang“. Und dann gibt’s ja auch noch den „Zinseszinseffekt“ bei der Prozentrechnung.
Wie Sie sehen, gibt es beim Prognostizieren eine Menge zu beachten (die BIP-Komponenten haben wir ja gar nicht erst angesprochen). Insoweit ein kleiner Tipp ans Umfeld: die Abwesenheit von Falten ist kein Indikator für fehlendes Wissen oder Erfahrung, es zeugt lediglich von guten Genen und einer hervorragenden Anti-Faltencreme.
[1] Eine Benchmark-Revision ist eine umfassende Revision der gesamten Zeitreihe bis zum Anfang zurück. Sie wird oft einmal im Jahr gemacht und passt statistische Änderungen an, z.B. die Einführung von „Geistigem Eigentum“ in die BIP-Berechnung oder Änderungen bei der Saison- oder Preisbereinigung.